Die Taliban sollen Iris-Scanner und dazugehörige Daten erbeutet haben. Vieles ist unklar. Trotzdem zeigt der Fall, wo die Gefahren biometrischer Erfassung liegen.
Es klingt immer so theoretisch. Was, wenn die Daten, die wir heute speichern, morgen in die Hände eines diktatorischen Regimes fallen? Wenn sie genutzt werden, um Menschen zu überwachen, zu verfolgen, zu unterdrücken? Vor solchen Szenarien warnen häufig Datenschutzaktivistinnen und -aktivisten, wenn es um die Sammlung personenbezogener Daten geht. Insbesondere dann, wenn diese Daten biometrisch sind, also körperbezogen: Fingerabdrücke, die Iris, ein Scan des ganzen Gesichts.
Solche Merkmale sind unveränderlich. Sind sie einmal erhoben und gespeichert, können sie ein Leben lang zur Identifikation eines Menschen genutzt werden. Das kann bei der vermeintlich harmlosen Kontrolle am Flughafen geschehen. Aber theoretisch eben auch, um diejenigen aus einer Gruppe herauszufiltern, die man einsperren oder gar töten will.
Vielen Menschen erscheinen Warnungen vor solch dystopischen Szenarien weit hergeholt – Medienberichten zufolge könnten sie in Afghanistan nun aber Realität werden. Laut dem US-Onlinemagazins The Intercept sollen die Taliban in Besitz biometrischer Geräte gelangt sein, die vorher von den dort stationierten US-Truppen verwendet wurden. Das hätten dem Magazin mehrere aktive und ehemalige Militärs bestätigt. Auch die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass Taliban Zugang zu biometrischen Datenbanken und Gerätschaften erlangt haben könnten – und verweist zum Beleg dafür auf entsprechende Aussagen der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights First.
Konkret geht es um sogenannte HIIDE-Geräte (Handheld Interagency Identity Detection Equipment). Mit deren Hilfe können biometrische Scans von Fingerabdrücken und Iris angefertigt und gespeichert und kontrolliert werden. Möglicherweise können sie auch genutzt werden, um auf zentrale Datenbanken zuzugreifen, heißt es bei The Intercept.
Mit diesen Werkzeugen könnten die Taliban im schlimmsten Fall Personen identifizieren, die sie als Feinde sehen: Ortskräfte und andere Menschen, die mit westlichen Militärs oder Nichtregierungsorganisationen zusammengearbeitet haben, warnt Human Rights First. Die Sorge: Wenn an Checkpoints oder bei Tür-zu-Tür-Kontrollen Fingerabdrücke und Iris gescannt werden, könnte es quasi unmöglich werden unterzutauchen.
Ohne nähere Informationen zu Fragen wie diesen ist es schwierig abzuschätzen, wie viel Schaden die Geräte in den Händen der Taliban anrichten können. Vergangene Vorfälle zeigen, dass sie zumindest bereit sind, solche Technologie zu nutzen: Schon 2016 berichteten lokale afghanische Medien von einem Vorfall, bei dem Taliban-Kämpfer Busse stoppten, Geiseln nahmen und Menschen töteten. Zuvor sollen sie nach Aussagen eines Armeekommandanten Fingerabdrücke aller Mitfahrenden mit einem Gerät gescannt haben, mit dem Sicherheitskräfte unter den Passagieren identifiziert werden konnten.
Auch Bundeswehrsoldaten waren offenbar im Rahmen eines sogenannten ISAF-Biometrics-Plans zur Verbesserung der Sicherheitslage im Einsatzgebiet an der biometrischen Erfassung von Afghaninnen und Afghanen beteiligt. Das zumindest legen Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage 2011 nahe. Es lägen bei der Bundesregierung "keine Bedenken gegen eine Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Biometrics-Plan vor", hieß es darin.
Auch biometrische Daten von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern wurden in den vergangenen Jahren erfasst. So zum Beispiel von der Wahlkommission, die damit Fälschungen und Manipulationen vermeiden wollte. Hier kamen laut einem Reuters-Bericht Maschinen der deutschen Firma Dermalog Identifications Systems zum Einsatz. Auch das afghanische Ausweisdokument enthält biometrische Informationen.
Viele Beobachter sind nun hoch besorgt, was diese Daten in den Händen der Taliban anrichten könnten. Man solle "das Schlimmste annehmen und dafür planen", rät Brian Dooley von Human Rights First in der britischen Ausgabe des Technikmagazins Wired in Bezug auf digitale Bedrohungen durch die Taliban. Die Organisation hat unter anderem eine Handreichung im Netz veröffentlicht, wie Menschen in Afghanistan biometrische Überprüfungen vermeiden können – weist jedoch schon darin darauf hin, dass dies im Einzelfall sehr schwierig sei.
Von einem "Albtraum-Szenario" spricht Ella Jakubowska, Policy Advisorin der europäischen digitalen Bürgerrechtsbewegung EDRi im Gespräch mit ZEIT ONLINE. EDRi warnt seit Jahren vor den Gefahren biometrischer Massenüberwachung, vor allem in Europa.
Sie fügt aber hinzu: "Wir sollten die Falle vermeiden, zu denken, dass es bei biometrischer Massenüberwachung good guys und bad guys gebe." Egal, in wessen Händen sie sich befänden, seien diese Daten höchst sensibel. Und so müsse man sich eben auch die Frage stellen, ob es notwendig und angemessen gewesen sei, dass die USA diese Angaben überhaupt erhoben hätten – auch eingedenk des Machtungleichgewichts, das zwischen US-Militärs und afghanischer Zivilbevölkerung bestanden habe.
Bereits im Mai dieses Jahres kam Nina Toft Djanegara von der Universität Stanford in einem Bericht für die NGO Privacy Internationalzum Ergebnis, dass das US-Verteidigungsministerium sein Biometrieprogramm, das auch im Irak zur Anwendung kommt, "ohne Bewertung der Auswirkung auf Menschenrechte und ohne notwendige Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch" entwickelt und umgesetzt habe.
In Afghanistan gehe es "schlicht um Leben und Tod der betroffenen Ortskräfte und ihrer Angehörigen", schreibt der grüne Digital- und Innenpolitiker Konstantin von Notz auf Anfrage von ZEIT ONLINE. "Hier wird der ganz praktische Wert eines guten Daten- und Grundrechtsschutzes auf schreckliche Art und Weise mehr als deutlich, der eben keine Daten, sondern Menschen schützt." Einmal mehr bewahrheite sich, dass man sich nie sicher sein könne, in wessen Hände einmal gesammelte Daten zu einem späteren Zeitpunkt fallen. "Das gilt im Übrigenm auch für vermeintlich gefestigte Demokratien", so von Notz.
Tatsächlich wird Biometrie-Technik auch hierzulande eingesetzt, von Fingerabdrücken im Personalausweis bis zur Gesichtserkennung bei der Verbrechensbekämpfung. Datenschützerinnen und Netzpolitiker kritisieren das regelmäßig, oft mit wenig Erfolg. Die Bedrohung klang bisher für viele wohl zu theoretisch.
Quelle: zeit.de
Es klingt immer so theoretisch. Was, wenn die Daten, die wir heute speichern, morgen in die Hände eines diktatorischen Regimes fallen? Wenn sie genutzt werden, um Menschen zu überwachen, zu verfolgen, zu unterdrücken? Vor solchen Szenarien warnen häufig Datenschutzaktivistinnen und -aktivisten, wenn es um die Sammlung personenbezogener Daten geht. Insbesondere dann, wenn diese Daten biometrisch sind, also körperbezogen: Fingerabdrücke, die Iris, ein Scan des ganzen Gesichts.
Solche Merkmale sind unveränderlich. Sind sie einmal erhoben und gespeichert, können sie ein Leben lang zur Identifikation eines Menschen genutzt werden. Das kann bei der vermeintlich harmlosen Kontrolle am Flughafen geschehen. Aber theoretisch eben auch, um diejenigen aus einer Gruppe herauszufiltern, die man einsperren oder gar töten will.
Vielen Menschen erscheinen Warnungen vor solch dystopischen Szenarien weit hergeholt – Medienberichten zufolge könnten sie in Afghanistan nun aber Realität werden. Laut dem US-Onlinemagazins The Intercept sollen die Taliban in Besitz biometrischer Geräte gelangt sein, die vorher von den dort stationierten US-Truppen verwendet wurden. Das hätten dem Magazin mehrere aktive und ehemalige Militärs bestätigt. Auch die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass Taliban Zugang zu biometrischen Datenbanken und Gerätschaften erlangt haben könnten – und verweist zum Beleg dafür auf entsprechende Aussagen der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights First.
Konkret geht es um sogenannte HIIDE-Geräte (Handheld Interagency Identity Detection Equipment). Mit deren Hilfe können biometrische Scans von Fingerabdrücken und Iris angefertigt und gespeichert und kontrolliert werden. Möglicherweise können sie auch genutzt werden, um auf zentrale Datenbanken zuzugreifen, heißt es bei The Intercept.
Mit diesen Werkzeugen könnten die Taliban im schlimmsten Fall Personen identifizieren, die sie als Feinde sehen: Ortskräfte und andere Menschen, die mit westlichen Militärs oder Nichtregierungsorganisationen zusammengearbeitet haben, warnt Human Rights First. Die Sorge: Wenn an Checkpoints oder bei Tür-zu-Tür-Kontrollen Fingerabdrücke und Iris gescannt werden, könnte es quasi unmöglich werden unterzutauchen.
Die Taliban nutzten schon früher Fingerabdruckscanner
Noch ist vieles unklar, zum Beispiel, welche Daten genau von diesen Geräten aus abgerufen werden können und welche Personen die darauf gespeicherten Daten betreffen. Auch, in welchem Umfang die Taliban die Technik nutzen können, ist fraglich. Ein ehemaliger Armeeangehöriger sagte The Intercept zwar, dass die Taliban wohl zusätzliche Werkzeuge bräuchten, um HIIDE-Daten verarbeiten zu können – zeigte sich aber besorgt, dass es dafür Unterstützung aus Pakistan geben könne.Ohne nähere Informationen zu Fragen wie diesen ist es schwierig abzuschätzen, wie viel Schaden die Geräte in den Händen der Taliban anrichten können. Vergangene Vorfälle zeigen, dass sie zumindest bereit sind, solche Technologie zu nutzen: Schon 2016 berichteten lokale afghanische Medien von einem Vorfall, bei dem Taliban-Kämpfer Busse stoppten, Geiseln nahmen und Menschen töteten. Zuvor sollen sie nach Aussagen eines Armeekommandanten Fingerabdrücke aller Mitfahrenden mit einem Gerät gescannt haben, mit dem Sicherheitskräfte unter den Passagieren identifiziert werden konnten.
Wohl auch Ortskräfte erfasst
Sicher ist, dass es in Afghanistan verschiedene Bestrebungen gab, die biometrischen Daten von Menschen zu erfassen. Bereits vor mehr als zehn Jahren begannen die USA, eine Fingerabdruck-Datenbank von Verdächtigen anzulegen, um mutmaßliche "bad guys" zu identifizieren. Tatsächlich wurden laut The Intercept nicht nur die biometrischen Daten potentieller Terroristen erfasst, sondern auch von Afghanen, die mit den USA und anderen ISAF-Kräften kooperierten.Auch Bundeswehrsoldaten waren offenbar im Rahmen eines sogenannten ISAF-Biometrics-Plans zur Verbesserung der Sicherheitslage im Einsatzgebiet an der biometrischen Erfassung von Afghaninnen und Afghanen beteiligt. Das zumindest legen Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage 2011 nahe. Es lägen bei der Bundesregierung "keine Bedenken gegen eine Beteiligung der Bundeswehr am ISAF-Biometrics-Plan vor", hieß es darin.
Auch biometrische Daten von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern wurden in den vergangenen Jahren erfasst. So zum Beispiel von der Wahlkommission, die damit Fälschungen und Manipulationen vermeiden wollte. Hier kamen laut einem Reuters-Bericht Maschinen der deutschen Firma Dermalog Identifications Systems zum Einsatz. Auch das afghanische Ausweisdokument enthält biometrische Informationen.
Beobachter sorgen sich vor "Albtraum-Szenario"
Laut der Investigativjournalistin Annie Jacobsen sei es langfristig das Ziel des US-Verteidigungsministerium gewesen, 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung biometrisch zu erfassen. Ob es tatsächlich so viele Menschen waren, sei allerdings unklar, weil das US-Verteidigungsministerium die entsprechenden Statistiken unter Verschluss halte, sagte sie dem US-Radiosyndikat NPR im Januar dieses Jahres.Viele Beobachter sind nun hoch besorgt, was diese Daten in den Händen der Taliban anrichten könnten. Man solle "das Schlimmste annehmen und dafür planen", rät Brian Dooley von Human Rights First in der britischen Ausgabe des Technikmagazins Wired in Bezug auf digitale Bedrohungen durch die Taliban. Die Organisation hat unter anderem eine Handreichung im Netz veröffentlicht, wie Menschen in Afghanistan biometrische Überprüfungen vermeiden können – weist jedoch schon darin darauf hin, dass dies im Einzelfall sehr schwierig sei.
Von einem "Albtraum-Szenario" spricht Ella Jakubowska, Policy Advisorin der europäischen digitalen Bürgerrechtsbewegung EDRi im Gespräch mit ZEIT ONLINE. EDRi warnt seit Jahren vor den Gefahren biometrischer Massenüberwachung, vor allem in Europa.
Sie fügt aber hinzu: "Wir sollten die Falle vermeiden, zu denken, dass es bei biometrischer Massenüberwachung good guys und bad guys gebe." Egal, in wessen Händen sie sich befänden, seien diese Daten höchst sensibel. Und so müsse man sich eben auch die Frage stellen, ob es notwendig und angemessen gewesen sei, dass die USA diese Angaben überhaupt erhoben hätten – auch eingedenk des Machtungleichgewichts, das zwischen US-Militärs und afghanischer Zivilbevölkerung bestanden habe.
Bereits im Mai dieses Jahres kam Nina Toft Djanegara von der Universität Stanford in einem Bericht für die NGO Privacy Internationalzum Ergebnis, dass das US-Verteidigungsministerium sein Biometrieprogramm, das auch im Irak zur Anwendung kommt, "ohne Bewertung der Auswirkung auf Menschenrechte und ohne notwendige Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch" entwickelt und umgesetzt habe.
Kritiker warnen seit Jahren vor Gesichtserkennung
In vielen Äußerungen von Kritikerinnen und Kritikern biometrischer Erfassungen, die sich nun zu Wort melden, schwingt mit, dass nun genau das Szenario eintreten könnte, vor dem immer gewarnt wird. Die Meldungen zeigten, "wie wichtig Technikfolgenabschätzung sei", twitterte Netzpolitikerin Anke Domscheit-Berg (Linke). Riesige biometrische Datenbanken seien immer und überall ein Risiko, weil man seine Iris nicht wechseln könne wie ein Passwort und auch ohne Taliban derartige Datenbanken angreifbar seien.In Afghanistan gehe es "schlicht um Leben und Tod der betroffenen Ortskräfte und ihrer Angehörigen", schreibt der grüne Digital- und Innenpolitiker Konstantin von Notz auf Anfrage von ZEIT ONLINE. "Hier wird der ganz praktische Wert eines guten Daten- und Grundrechtsschutzes auf schreckliche Art und Weise mehr als deutlich, der eben keine Daten, sondern Menschen schützt." Einmal mehr bewahrheite sich, dass man sich nie sicher sein könne, in wessen Hände einmal gesammelte Daten zu einem späteren Zeitpunkt fallen. "Das gilt im Übrigenm auch für vermeintlich gefestigte Demokratien", so von Notz.
Tatsächlich wird Biometrie-Technik auch hierzulande eingesetzt, von Fingerabdrücken im Personalausweis bis zur Gesichtserkennung bei der Verbrechensbekämpfung. Datenschützerinnen und Netzpolitiker kritisieren das regelmäßig, oft mit wenig Erfolg. Die Bedrohung klang bisher für viele wohl zu theoretisch.
Quelle: zeit.de